Schon früher wurden die biologischen und soziologischen Ursachen von kriminellem Verhalten kontrovers und durchaus emotional diskutiert. Was ist nun Neurokriminologie?
Eine allgemeingültige Definition des Begriffes Neurokriminologie gibt es nicht. Der Ausdruck setzt sich aus den beiden Bestandteilen ‚Neurologie‘ und ‚Kriminologie‘ zusammen.
Die Neurokriminologie ist somit eine Spezialwissenschaft zwischen den Neurowissenschaften und der Kriminologie.
Der international bekannte Neurokriminologe Adrian Raine definiert Neurokriminologie als, die Lehre von der neuronalen Basis des Verbrechens, bei der es darum geht, mit Hilfe neurowissenschaftlicher Prinzipien und Techniken die Ursprünge antisozialen Verhaltens zu verstehen.
Hans J. Markowitsch beschreibt die Neurokriminologie in seinem Buch ‚Tatort Gehirn‘ als eine Wissenschaft, die der Frage nachgeht, wie die Schädigung bestimmter Hirnregionen, Fehlfunktionen des Stoffwechsels oder aus der Balance geratene Botenstoffe zu psychischen Symptomen führen können, die Persönlichkeitsveränderungen bis hin zum Serienmörder begünstigen.
Die zentrale Einsicht der Neurokriminologie besteht darin, dass fehlerhafte neuronale Verschaltungen im Gehirn delinquentes Verhalten verursachen können und dass verhaltensauffällige Störungen, die gesellschaftlich als kriminelle Verhaltensweisen eingestuft werden, von der strukturellen Beschaffenheit und Entwicklung des Gehirns bestimmt werden.
Schon 1871 hat sich Lambroso mit Vorläufern der Neurokriminologie beschäftigt. Es handelt sich also um keine neue Wissenschaft im eigentlichen Sinn. Lambroso arbeitet als Psychiater in einer Anstalt für psychisch gestörte Straftäter. Bekannt wurde er durch seine Autopsie des kalabrischen Straßenräubers Giuseppe Villella. Dabei sah er eine ungewöhnliche Vertiefung unter den beiden Hemisphären. Dies führte zu seinen Schlussfolgerungen:
1. Der Ursprung des Verbrechens liegt im Gehirn und
2. Kriminelle stellen einen evolutionären Rückfall in eine primitivere Art dar.
Laut Lombroso ließen sich Straftäter durch Körpermerkmale identifizieren. Er entwickelte eine Hierarchie wo Juden und Norditaliener ganz oben und Süditaliener zusammen mit Boliviern und Peruanern ganz unten in der Hierarchie standen.
Folgen dieser Forschungen waren u.a. die eugenische Bewegung Anfang des 20. Jh und die Rassengesetze 1938 von Mussolini (Arier vorne, Juden an letzter Stelle).
Rein evolutionsbiologisch betrachtet ist die Fähigkeit zu antisozialem und gewalttätigem Verhalten sinnvoll. Kriminelle Handlungen sind ein Versuch anderen Ressourcen zu rauben.
Zwischen 1945 und den 1970er Jahre erfolgte eine Welle der Umetikettierung der Kriminologie, wobei die Kriminalbiologie an sich zu keinem Zeitpunkt inhaltlich abgeschafft wurde, sondern eher in eine begriffliche Verbannung geraten ist. Im Rahmen der Umetikettierung und der Paradigmenverschiebung, wurden viele verschieden sozialanthropologische und psychopathologische Lehren gegründet. Anfang der 1980er fand die Kriminalbiologie wieder in der Soziobiologie, Persönlichkeitspsychologie und vor allem im Rahmen der Neurowissenschaften und den damit verbundenen Hirnforschungen, seinen „Comeback“.
Die Neurokriminologie beschäftigt sich hauptsächlich mit der Erforschung des menschlichen Gehirns und den Auswirkungen von (fehlerhaften) neuronalen Verbindungen auf menschliche (kriminelle) Verhaltensweisen.
Insbesondere die Frontalstirnlappen der Großhirnrinde (präfrontales Cortex), welcher in einen orbitofrontalen Cortex und in einen dorsolateralen präfrontalen Cortex aufgeteilt wird, sind Gegenstand der Hirnforschung.
Auch das limbische System bzw. die Amygdala stehen im Mittelpunkt der Forschung, da sie auch mit dem präfrontalen Cortex in wechselwirkender Verbindung stehen. Der präfrontale Cortex ist mit den subcorticalen Einheiten des limbischen Systems und mit den Basalganglien verbunden, wodurch die enge Verzahnung zwischen diesen Systemen erkennbar ist.
In diesem Teil der Großhirnrinde werden zum einen Gedächtnisinhalte verarbeitet und gespeichert und zum anderen finden emotionale Bewertungsprozesse statt. Da in diesem Teil des Gehirns Analyse- und Überwachungsfunktionen ausgeführt werden, wird dieses Gehirnareal in Fachkreisen „LOCUS OF CONTROL“ genannt. Dadurch, dass der Locus of control mit vielen anderen Hirnregionen in Verbindung steht kommt es häufig zu positiven Wechselwirkungen und zu negativen Rückkopplungen zwischen diesen beiden Systemen.
Als Beispiel kann der Fall von Phineas Gage beschrieben werden. Bei ihm durchschlug eine Eisenstange, mit der er am Kopf verletzt wurde, von links unten nach rechts oben durch die Schädeldecke. Dabei wurde sehr wahrscheinlich der orbitofrontale Cortex in Mitleidenschaft gezogen, wodurch seine Verhaltensänderung erklärt werden könnte.
Insbesondere Verletzungen im orbitofrontalen Cortex können zu starken Persönlichkeitsveränderungen und zu Störungen der Emotionsregulation führen. Jegliche Verletzungen und Veränderungen im Locus of control werden als Frontalhirnsyndrom bezeichnet. Dann können Verhaltensweisen des Menschen sich nicht auf neue Situationen einstellen undproblemlösendes Denken und vorausschauende Planung funktionieren nicht mehr.
Neuronale Fehlschaltungen sind Ursache für deviantes und delinquentes Verhalten. Kriminelle Verhaltensweisen werden von der strukturellen Beschaffenheit und Entwicklung des Gehirns bestimmt. Damit stellt sich sehr bald die Frage der Verantwortung des Einzelnen. Bei den Personen, die wegen einer Schädigung der jeweiligen Gehirnareale ein abweichendes Verhalten zeigen, ist die eigene Verhaltensanalyse, Reaktionsüberwachung und Emotionsregulation eingeschränkt. Sie sind damit nicht schuldig, im Sinne des Strafrechtes. – Eine äußerst kontroverse und auch weitreichende These!
Durch Einsatz von bildgebenden Verfahren wurden in den letzten Jahrzehnten, vor allem in den USA, viele Gehirne von Straftätern untersucht. Dabei kam man zu dem Schluss, dass sich die Gehirne und die darin ablaufenden Stoffwechselvorgänge von Delinquenten von denen von nicht straffällig gewordenen Menschen unterscheiden. Bei Tätern, die Tötengsdelikte verübt hatten wurde beispielsweise eine erhöhte subkortikale Aktivität festgestellt.